Aus gegebenem Anlass: Digitale Zwillinge können Leben retten, wenn man sie nur lässt

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Über die digitale Relevanz von Klimawandel, Flutkatastrophe sowie Milch und Gießkannen…

Angesichts der Flutkatastrophen der vergangenen Wochen Legen uns Ex-Umweltministerin und Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanzlerkandidat Armin Laschet die Frage nahe, ob nicht vielleicht „die gute alte Sirene nützlicher, als man gedacht hat“ sei. Einst bei Homer war der Sirenen Sang betörend, hier geht es schlichter zu, wenn unklar bleibt, wer diese Sirenen im Notfall aktivieren soll und auf unsicherer Datenlage den Roten Knopf drückt.
Wie kann es zu Katastrophen solchen Ausmaßes kommen? Der Grad zwischen übereilter Panikmache und fahrlässigen Versäumnissen ist schmal. Vorausschauendes Handeln ist dringend erforderlich. Eine Integration Digitaler Zwillinge kann helfen, dass so etwas uns in Zukunft nicht mehr kalt erwischt.
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Erfahrungen nutzen
Woran kann sich eine reiche Industrienation wie Deutschland orientieren? An Mosambik z. B. Dort kam es im Jahr 2000 zu Flutkatastrophen mit hohen Verlusten an Leib und Leben sowie Hab und Gut. Daraufhin wurde mit Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) seit 2005 ein Flutwarnsystem aufgebaut, bei dem man Freiwillige zur Datenerfassung und -übertragung von Pegelständen und Regenmessern ausgebildet hat. Die gesammelten Daten speisen ein Gewässermodell, einen Digitalen Zwilling der mosambikanischen Fließgewässer. Zusammen mit einem zweiten digitalen Zwilling, dem digitalen Geländemodell der Oberfläche und des Untergrundes, könnten bereits Rechenmodelle zur Auswirkung von Wetterereignissen, wie Stürmen oder Regenfällen gespeist werden. Derzeit ist Übertragbarkeit ja Thema aller Themen, gilt sie auch für dieses Beispiel?

  • Mosambik zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, die Datenerfassung erfolgt dort manuell. Bei uns werden die Pegelstände von Fließgewässern seit Jahrzehnten erfasst und archiviert.
  • Mosambik hat weder eine stabile Strom- oder Trinkwasserversorgung noch ein verlässliches Zivilschutzsystem.
    Unsere Systeme sind häufig sogar redundant, wenn das Festnetz ausfällt, telefonieren wir halt über mobile Netze. Bei Großveranstaltungen werden schnell noch ein paar mobile Funkmasten dazugestellt, also sollte das bei Großkatastrophen wohl erst recht möglich sein.
  • Hiesige Gefilde sind von oben bis unten kartiert, Berge und Täler, sogar der Untergrund ist digital erfasst. Mosambik muss vorwiegend auf bereitgestellte Satellitendaten zurückgreifen.

– ii –
Unsere Digitalen Zwillinge reden nicht miteinander
Man muss Forschungsministerin Anja Karliczek wohl recht geben, dass “5G nicht an jeder Milchkanne notwendig” sei. Zum Glück kündete sie nichts von „Gießkannen“, denn eine digitale Gießkanne, die ihren starkregenartigen Wasserschwall auf die kombinierten Digitalen Zwillinge von Gelände und Fließgewässer entließe, könnte so manche Katastrophe im Voraus erkennen und die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen prüfen.
Die gute Nachricht zuerst: Wir haben in unserem Lande solche Digitalen Zwillinge. Teilweise können sie auf einen über Jahrzehnte gereiften Datenbestand zurückgreifen und sind damit auch eine Art Katastrophengedächtnis.
Nun die schlechte Nachricht: diese Digitalen Zwillinge hüllen sich in Schweigen, denn sie sind in Datensilos eingesperrt. Ein Landesvermessungsamt hier, ein Bundesamt dort, jeder hat seine eigenen Datenbanken, Schnittstellen und Zugriffsprotokolle. Kurz mal einen digitalen Starkregen über einer digitalen Berglandschaft in Nordrhein-Westfalen auskippen? Anschließend im hydrologischen Digitalen Zwilling und im Digitalen Stadtmodell die Auswirkungen erkennen und Präventivmaßnahmen planen? Bisher ist das leider weitestgehend Zukunftsmusik, denn bisher haben wir nur die – zwar sehr wertvollen – Warnungen des
Deutschen Wetterdienst. Was es aber genau bedeutet, wenn ein Starkregenereignis eintritt und wie darauf reagiert werden muss, damit stehen Entscheider vor Ort im wahrsten Sinne im Regen.
Das alles passiert im Jahr 2021, in Deutschland, einer der führenden Technologienationen! Wir haben die Technologie, wir haben die Daten! Warum nutzen wir sie nicht? Oder gibt es etwa eine  Datenschutzgrundverordnung für digitale Gießkannen?
Verantwortliche kommunale Entscheidungsträger brauchen Unterstützung durch solide digitale Modelle, um Katastrophen präventiv abzuwenden.
– iii –
Können wir von anderen lernen?
Die Briten haben uns schon bei BIM gezeigt, wie man’s machen sollte und jetzt auch noch bei Digitalen Zwillingen? Das Centre for Digital Built Britain (CDDB) arbeitet tatsächlich seit einiger Zeit daran, Digital Twins für alle wesentlichen Bereiche des öffentlichen Lebens und der gebauten und natürlichen Umgebung zu erstellen. Das Problem wurde erkannt: nur wenn sie miteinander reden können, sind Digitale Zwillinge in der Lage, auch nicht vorhergesehene Fragestellungen zu analysieren. Gestern mag es ein abgebranntes Hochhaus in London gewesen sein, das die Frage aufwirft, wo ähnliche Konstruktionen ähnliche Katastrophen verursachen könnten; heute ist es ein Starkregenereignis in den Midlands, das zu Überflutungen und Brückensperrungen führt. Und morgen? Fragen werden auf uns zukommen, die wir heute noch nicht kennen. Zum Glück freilich kennen wir die Werkzeuge, die uns Antworten liefern könnten. Und es gibt erste Lichtblicke. So laufen an der RWTH Aachen dazu bereits Forschungen mit 3D-Stadtmodellen und hochauflösenden Wetterradars.[1]
– iv –
Ein Ökosystem für Digitale Zwillinge
Vorausschauende Organisationen wie buildingSMART international machen sich seit längerem Gedanken, wie eine Erschließung von Wissen durch Vernetzung Digitaler Zwillinge aussehen könnte.[2] Gemeinsame Datenumgebungen (CDE) spielen eine wichtige Rolle bei der Implementierung. Die Digital Twins der unterschiedlichen Fachgebiete nutzen eine jeweils eigene Fachsprache. Die Maxime „dann nutzt doch alle dieselbe Sprache“ ist kein realistischer Weg. Die Überwindung von Sprachbarrieren führt über sogenannte Ontologien, die intelligente Vernetzung durch eine Art „digitales Sprachverständnis“ ermöglicht.
– v –
Brauchen wir die Hilfe des GIZ und des World Institute for Disaster Risk Management (DRM)?
Mit Hilfe der GIZ und des DRM wurde in Mosambik ein einfaches Warnsystem aufgebaut. Das hat bis heute viele Menschenleben gerettet. Der Einsatz dieser Organisationen würde in unserem Lande vermutlich jedoch in Kompetenz- und Zuständigkeitsgerangel verpuffen.
Können wir’s trotzdem schaffen? Es besteht nicht die Notwendigkeit alle verfügbaren Digitalen Zwillinge in einem Super-Datensilo zu vereinigen. Ziel muss die Entwicklung eines Vernetzungskonzepts für die bereits bestehenden Digitalen Zwillingen sein.
Die technischen Mittel stehen beispielsweise in Form zuverlässiger standardisierter Gemeinsamer Datenumgebungen (CDE) bereit. Zielführend wäre die Implementierung dieses Konzepts, etwa unter der Ägide einer Bundesbehörde wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Der Einsatz digitaler Methoden muss auch in unserem Lande in Zukunft dazu beitragen, dass Extremereignisse durch vorausschauendes Handeln nicht in Katastrophen ausarten und Entscheider vor Ort auf soliden Datengrundlagen sowohl präventiv als auch im Ernstfall wohlinformierte Entscheidungen treffen können.
Ulrich Hartmann
[1] https://www.deutschlandfunk.de/forscher-entwickeln-fruehwarnsystem-
3d-stadtmodell-warnt.676.de.html?dram:article_
id=467788
[2] 2 https://www.buildingsmart.org/buildingsmart-positioning-paper-
enabling-an-ecosystem-of-digital-twins/